DIE ”SPRECHER”-SZENE IN  DER  ZAUBERFLÖTE



Als ich einmal einen Vortrag über computergesteuerte Musikanalyse halten sollte, wählten meine Kollegen – aufgefordert, mir ein Thema zu stellen, an dem ich meine Untersuchungen darlegen sollte – die Sprecherszene aus der Zauberflöte. Die Frage war, ob das ”Künstliche Gehirn” den bekannten Interpretationen des Werkes irgend etwas Neues oder Überraschendes hinzufügen könne. Die folgende Analyse ist nichts anderes als das Ergebnis eines Vergleichs zwischen dem computergeschaffenen ”Plan” und dem Libretto.

Was kann ein Computer? Sein Erfinder, der gebürtige Ungar John Neumann, sagte: ”Der Computer ist das dümmste aller Tiere – das aber tut er ungeheuer schnell”. Genauer ausgedrückt bedeutet dies, daß der Computer zu Dingen in der Lage ist, für die das menschliche Auge nicht taugt: er kann eine Nadel im Heuhaufen finden. Es ist ja seit einiger Zeit bekannt, daß die Klangdramaturgie der Musik mit Hilfe der Regeln klassischer Harmonik nur teilweise verstanden werden kann. Wir wissen daher, daß Verdis und Wagners Opern, anstelle sich nach den gängigen Regeln der Musik zu richten, eher wie organische Zellen sind, deren jede Komponente mit jeder anderen in organischer Beziehung steht. Früher suchten wir nach der Logik, wie ein Element aus einem anderen geboren wird, d.h. welche Logik einer Akkordfolge zugrundeliegt. In dem historischen Augenblick, wo das heptatonische System aufgegeben wurde, entwickelte sich das tonale System sofort als multidimensional und wurde damit so komplex und unentzifferbar für den menschlichen Verstand, daß es ohne Computerprogramme schwierig wäre, eine Antwort auf die scheinbar einfache Frage zu geben, was die wahre Bedeutung der Dialoge in der Zauberflöte ist.

Beginnen wir unsere Untersuchung mit ein paar ”Versuchstakten”. Mozart konstruierte jeden Abschnitt des bemerkenswerten Dialogs in Beziehung auf einen dramatischen ”Bruchpunkt”, der auch die tonale Struktur der Szene bestimmt.

Die Durtonleiter und die harmonische Molltonleiter unterscheiden sich in zwei Tönen: die Molltonleiter enthält die kleine Terz und kleine Sext, die Durtonleiter dagegen die große Terz und große Sext. Modifiziert man zum Beispiel D-Dur, indem man dem Grundton d eine kleine Terz und kleine Sext (also f und b) hinzufügt, so erhält man einen B-Dur-Dreiklang der, verglichen mit D-Dur, den Eindruck eines höchst gewaltsamen Dur-Moll-Kontrastes schafft. In der hier untersuchten Szene erklingt der schärfste Kontrast beim Kommando ”Zurück!”, das von jenseits der Tempelpforten hervorschallt. Es gibt beinahe das Gefühl eines körperlichen Schlages: der D-Dur-Klang ist niedergeschmettert, zertrümmert von einem B-Dur-Akkord. – Hier soll angemerkt werden, daß ein ähnlich scharfer ”Dur-Moll”-Kontrast innerhalb des C-Dur-Kontextes vom As-Dur-Akkord geschaffen wird.

Jeder Abschnitt des Dialogs enthält eine szenische und eine damit zusammenhängende tonale Überraschung. Die erste, Taminos Staunen, zeigt sich beim Erblicken der Tempelsäulen. Früher wurde der ”Wirkungsmechanismus” modalen Denkens folgendermaßen erklärt: mit jedem neuen Akkord wird ein Vergleich ausgelöst zwischen dem Klang, der nach natürlicher musikalischer Logik erwartet wird, und dem Klang, der tatsächlich zu hören ist. Der Spannungsunterschied zwischen beiden bestimmt die Aussage, die Bedeutung (d.h. modale Eigenschaft) der Musik.

Was zuerst passierte war, daß die A-Dur-Dominante von einer d-moll-Tonika gefolgt wird, zu den Worten: ”Wo bin ich nun? was wird mit mir?”. Jetzt aber folgt der A-Dur-Dominante unerwartet anstelle des d-moll ein Fis-Dur:

Bsp. 230

Hieraus ergeben sich wenigstens drei Folgerungen:

     (a) Im Kontext der C-Dur-Szene fällt Fis-Dur die Rolle des Gegenpols zu.

     (b) Noch wichtiger: nach der Dominante A-Dur bringt das eine kleine Terz tiefer liegende Fis-Dur einen Zuwachs an drei Kreuzen mit sich. Oder, anders ausgedrückt, es findet eine ”Achsenhebung” in positiver Richtung statt, da Fis-Dur ebenfalls als Dominante auftritt. Diese innere Erhöhung fängt, wie schon gesagt, den Augenblick ein, in dem Tamino die Säulen von Sarastros Tempel erblickt..1)

     (c) Es sollte jedoch nicht vergessen werden, daß der Fis-Dur-Akkord anstelle von d-moll auftritt, und daß d-moll und Fis-Dur bezeichnenderweise komplementäre Tonarten sind: sie ”zerstören” einander. Wie es auch vom Allegro-Thema gezeigt wird, gerät unser Held hier in einen Zustand der Erregung.

Auf diese Weise (d.h. über die Auflösung der Fis-Dur-Dominante) erreichen wir die h-moll-Tonart, die Taminos Charakter in lebhaften Farben schildert (Allegro). Was aber bedeuten dieses h-moll und das folgende e-moll (forte: ”mutig zur Pforte hinein”)? Wie wir wissen, wird in der romantischen Musik der stärkste Kontrast geschaffen durch komplementäre Tonarten, die einander gegenseitig neutralisieren.

Die As-Dur-Frage des Sprechers, gefolgt von einer Antwort in Es-Dur (es ist noch immer der Sprecher, der den Ton des ”Heiligtum” angibt), schafft im Vergleich zu h-moll und e-moll einen Kontrast, wie er an Ausdruckskraft selbst in der Romantik kein Ebenbild findet. E-moll und As-Dur sowie h-moll und Es-Dur sind komplementäre Tonarten, die einander auslöschen.

Ist es je irgendjemandem eingefallen zu fragen, warum Bartók in der Burlesque Nr. 2 der rechten Hand e-moll, der linken aber As-Dur gab (ebenso im Klavierstück Wippe)? Oder warum er den zweiten Satz des Streichquartetts Nr. 4 in e-moll, und dessen Variation, den vierten Satz, in As-Dur schrieb? (Später wird es auch klar werden, warum der erstere ”phrygischen” Charakter hat, der letztere aber notwendigerweise ”lydischen”.2)

Spielen wir das Liebesduett aus dem Tristan in C-Dur, und wir werden sofort eine Vorstellung von der elektrischen Spannung des Gegensatzes zwischen h-moll und Es-Dur bekommen. Die Dur-Spannung von G-Dur kann durch h-moll (den positiven Substitutionsakkord) erhöht werden, die Moll-Spannung von g-moll durch Es-Dur (den negativen Substitutionsakkord).3)

Bsp. 231

Auf der einen Seite steht Taminos jugendliche Leidenschaft, seine spontane, beinahe kämpferische Tapferkeit: ein herausforderndes Verhalten, eine Kombination von körperlicher Kraft, wachem geistigen Interesse und frischem Wahrnehmungsvermögen. Wir werden durch die entzückten und unberechenbaren Ausbrüche unseres Helden, seinen Enthusiasmus, seine tapfere Entschlußkraft davon überzeugt, daß er sich in seinem Weg durch nichts behindern lassen würde. — Auf der anderen Seite steht die durch das reife Alter des Sprechers repräsentierte Welt, die Haltung bedächtiger und tiefer Weisheit. Die stets vorhersehbare spirituelle Kraft speist sich aus tiefer Lebenserfahrung, wobei gezügelte Leidenschaft asketisches Hellsehen verbirgt.

Bei oberflächlichem Blick mögen h-moll und e-moll eine ”Moll-Welt”, As-Dur und Es-Dur dagegen eine ”Dur-Welt” nahelegen. Tatsächlich aber ist es genau umgekehrt. Ebenso wie im obigen Beispiel h-moll innerhalb der C-Dur-Szene als (positiver) Substitutionsakkord der fünften Stufe G-Dur auftritt (vgl. ”das Laster nicht leicht”), so tritt auch e-moll als positiver Substitutionsakkord der Tonika C-Dur auf. Als Auflösung des vorangehenden G-Dur-Akkords erklingt nicht C-Dur; der Monolog verschiebt sich anstelle dessen nach e-moll.

Andererseits wird der den Bühnenauftritt des Sprechers bezeichnende As-Dur-Akkord als c-moll vertretenden ”Trugschluß” eingeführt. Infolgedessen erscheint As-Dur als negativer Substitutionsakkord von c-moll. Was jedoch nach weiteren Erklärungen verlangt, ist die Wahrnehmung von Es-Dur nicht als Paralleltonart zu c-moll, sondern vor allem als Substitutionsakkord der Molldominante g-moll.

Hier fällt einem ein Beispiel aus der Romantik ein. Im Parsifal-Vorspiel, beim zweiten Einsatz des Themas (siehe Bsp. 44), erscheint As-Dur als Vorhalt von c-moll, während das e-moll-Antwortmotiv von C-Dur umgeben ist. Man kann klar erkennen, daß 

Bsp. 232

As-Dur der Substitutionsakkord von c-moll ist, und
  e-moll der Substitutionsakkord von C-Dur.

Um den Kreis zu schließen: was den negativen und positiven Substitutionsakkorden As-Dur und e-moll Mark und Kern ist, daß die beiden einander neutralisieren, da sie in komplementäre Verbindung eingehen.

Was die Beziehung zwischen h-moll und Es-Dur betrifft, so vertritt h-moll die Dominante G-Dur als positiver Substitutionsakkord, Es-Dur aber die Molldominante g-moll als negativer Substitutionsakkord. (Wie wir schon früher anmerkten, ist der Es-Dur-Akkord der Trugschluß in g-moll.)

Um zum Liebesduett im Tristan zurückzukehren, so sollte nicht übergangen werden, daß der zweite Schritt der Sequenz, obwohl identisch mit dem ersten, wie folgt gehört wird:

Bsp. 233

Hier sind e-moll und As-Dur nicht anderes als die Substitutionsakkorde der Tonika C-Dur beziehungsweise c-moll. Ich habe mich oft gefragt, warum Bartók den e-moll- und As-Dur-Akkorden soviel Bedeutung beimaß. Die zentrale Wendung in der Cantata profana – ”A fáklyák már égnek...” (Schon leuchten die Fackeln) – war unzweifelhaft in C-Dur entworfen, und dennoch ist die Melodie von taktweise alternierenden e-moll- und As-Dur-Akkorden begleitet. Der eine färbt das Motiv als der positive Substitutionsakkord von C-Dur, der andere als der negative Substitutionsakkord von c-moll. Und was am meisten Gewicht hat ist, daß die beiden Akkorde sich zum Modell 1:3 verbinden, d.h. daß ihre Beziehung eine komplementäre ist.

Bsp. 234

Im zweiten Satz von Bartóks Tanzsuite ist die in G entworfene Ritornellmelodie in ähnlicher Weise von h-moll- und Es-Dur-Akkorden gestützt, die als Substitutionsakkorde für G-Dur bzw. g-moll stehen. (Siehe hierzu Bsp. 204.)

Die bedeutsamste Wende in der Entwicklung der klassischen ”Heptatonik” wurde hervorgebracht durch die Geburt der SI-Stufe als Leitton der Molltonleiter (nach dem Modell der Durtonleiter). Diese ”Fermentierung” der Diatonik, diese romantische Erweichung des tonalen Systems wurde tatsächlich verursacht durch den Unterschied zwischen SO und SI. Ein greifbares Beispiel dieses Vorgangs findet sich im langsamen a-moll-Satz von Beethoven’s Siebter Sinfonie, in der der C-Dur-Dreiklang als Substitutionsakkord der Molldominante (e-moll) auftritt, und nicht als Parallele der Tonika a-moll. Dies zeigt sich besonders deutlich im Refrain des Themas:

Bsp. 235

In den ersten vier Takten hat die Note gis den Stellenwert eines SI, in den nächsten vier Takten dagegen erklingt g in der Bedeutung eines SO. Der Ton SO erhält dank des melodischen Schritts FI-SO (fis-g) einen eigenen Leitton. Der Unterschied zwischen SI und SO schafft den Eindruck, daß der Charakter des SO sehr viel ”umwölkter”, gedämpfter, dunkler und sensibler ist. Dasselbe findet sich erneut bei der Wiederholung der Refrainmelodie in T. 15-18: in Takt 15-16 hören wir SI, in T. 17 kehrt jedoch das ”gedämpftere” SO wieder.

Bsp. 236

Es kann als Regel betrachtet werden, daß der Schritt von einer Molltonart zur parallelen Durtonart eine Bewegung in die ”negative”, unnatürliche Richtung darstellt, da der Leitton SI nicht aufwärts aufgelöst wird, sondern in unnatürlicher Weise abwärts nach SO. Im Liebesmotiv aus dem Tristan findet sich dasselbe Muster: statt zum erwarteten C führt der Leitton h abwärts zum b.

Bsp. 237

Kehren wir zur Zauberflöte zurück. Der erste rhetorische Widerspruch im Dialog ist das betonte Wort ”allein”, das vermutlich hier die Bedeutung von ”doch..” hat. Der Sprecher erhebt die Stimme; doch egal, ob man die Tonart als Es-Dur oder als c-moll interpretiert, der Ton b hat die Bedeutung eines SO und der Ton h die eines SI:

Bsp. 238

Mozart trifft das Hauptmerkmal der genannten ”Fermentierung”, wenn er feststellt, daß die Geburt des SI die Möglichkeit des übermäßigen Dreiklangs mit sich bringt. Der Sprecher singt eine Melodie basierend auf dem augmentierten Akkord.

Bsp. 239

Von derselben Möglichkeit hat Mozart dann auch an anderem Ort Gebrauch gemacht; man denke an das ”Zurück, zurück!”

Bsp. 240

Hier muß die wesentliche Beziehung erwähnt werden, die zwischen Akkorden mit gemeinsamer Terz besteht. Die klassische Harmonielehre vergißt, auf den entscheidenden Punkt hinzuweisen, nämlich, daß (in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle) Akkorde mit gemeinsamer Terz als Akkorde der VI. Stufe auftreten – als VI. Stufe der Dur- und der Molltonart. Die VI. Stufe von C-Dur ist a-moll und die VI. Stufe von c-moll ist As-Dur. Die gemeinsame Terz (die Note c) ist identisch mit dem Grundton. C-Dur gegen c-moll zu stellen ist nicht die wirkungsvollste Art, Dur mit Moll zu kontrastieren. Viel effektiver ist es dagegen, deren VI. Stufen, a-moll und As-Dur, gegeneinander zu stellen, wie es zum Beispiel im folgenden Dialog zwischen Brangäne und Tristan der Fall ist. Als Tristan (und mit ihm As-Dur) auftritt, verliert er fast "den Verstand und das Bewußtsein" (wenn auch hier in einem ironischen Sinn): Wagner präsentiert uns einen echten "Molleffekt":

Bsp. 241

In Bezug auf die Sprecherszene bestimmen der Akkord auf der VI. Stufe der Molltonart und der entsprechende Akkord der Durtonart die formale Anlage des gesamten Dialogs: der Sprecher betritt die Bühne mit der VI. Stufe der Molltonart (As-Dur-Akkord), und wenn er die Bühne verläßt, tritt Tamino mit der VI. Stufe der Durtonart (a-moll-Akkord) auf. Der befreiende Gedanke wird wie folgt getragen:

       VI. Stufe von c-moll: As-Dur
                                                                       = Akkorde mit gemeinsamer Terz
        VI. Stufe von C-Dur: a-moll

Unzweifelhaft bewahrt Mozart das harmonisch spannendste Ereignis für die Entwicklung auf. Es kann kein Zufall sein, daß die größten Künstler wie Toscanini und Bruno Walter diesen Augenblick – ”Man opferte vielleicht sie schon?” – auch dramaturgisch in den Brennpunkt der Handlung stellten.

Schon der polare Wendepunkt zeigt an, daß Mozart seinen gewagtesten harmonischen Effekt an uns ”ausprobiert”: d-moll und H-Dur sind sechs Vorzeichen voneinander entfernt, genau wie die Tonarten, deren Grundtöne einen Tritonus bilden (z.B. F-Dur und H-Dur).

Bsp. 242

Wir müssen aber mit einem Problem anfangen, dem ich zuvor eine gründliche Untersuchung gewidmet habe. Das tonale Zentrum einer Durtonart ist DO; dies bedingt die Vorherrschaft des Leittonschritts TI-DO. In Molltonarten ist jedoch nicht notwendigerweise LA das tonale Zentrum, sondern vielmehr MI: der Melodiekern enthält gewöhnlich FA-MI-Schritte (man denke an den Hauptgedanken in Mozarts großer g-moll-Sinfonie, oder an das Hauptthema in Beethoven’s Appassionata mit ihren des-c Wechseln in T. 1-24). In unserem tonalen System ist der Schritt FA-MI das dem Leittonschritt TI-DO symmetrische Notenpaar; MI ist das Spiegelbild von DO.4)

Der Ton MI (e in a-moll) kann von zwei Seiten auf äußerst wirkungsvolle Weise erreicht werden: aus der Richtung des FA und der des RI (d.h. von f und dis). Was ist schließlich der übermäßige Quintsextakkord anderes als ein spezieller Akkord, typisch für Molltonarten, der entsteht, wenn die V. Stufe (MI) nicht einfach durch die IV. Stufe vorbereitet wird, 

Bsp. 243

sondern stattdessen das MI-Zentrum von beiden Seiten durch chromatische Schritte erreicht wird: durch FA-MI und RI-MI (d.h. f-e und dis-e-Schritte) ”Richtungstöne”. In einem solchen Fall schafft die enge harmonische Beziehung sozusagen eine ”physiologische” Wirkung.

Bsp. 244

Zwischen jedem Auftritt des dreimal wiederholten Motto-Themas (”Sobald dich führt...”), das in Bezug auf seine Form das Erreichen des Ziels ausdrückt, hört man den übermäßigen Quintsext-Akkord, der dem MI-Zentrum besonderes Gewicht verleiht. Der Akkord betont zunächst das Wort ”Licht” und unterstreicht dann den Satz ”saget mir: lebt denn Pamina noch?”

Bsp. 245

Der Kern dieser Harmonie – F-Dur – ist die VI. Stufe der Tonika a-moll. Das die Entwicklung vorbereitende H-Dur andererseits ist der Gegenpol von, oder steht im Tritonusverhältnis zu F-Dur. Das Vorbild der polaren Wendung muß zum neapolitanischen Sextakkord zurückverfolgt werden. Sowohl der neapolitanische Sextakkord als auch der ihm folgende Schritt V-I dienen dazu, einen Zentralton mit Halbtonschritten zu umschreiben: in a-moll tendieren b und gis chromatisch zum Ton a.5)

Bsp. 246

Übrigens wissen wir aus früherer Erfahrung, daß der neapolitanische Sextakkord B-Dur nichts anderes ist als der Substitutionsakkord der Subdominante d-moll.

Die oben zitierte polare Wendung (”Man opferte...sie schon?”) basiert auf einer ähnlichen Anziehungskraft, die in den Wiedergaben durch Toscanini, Bruno Walter und Karajan unzweifelhaft bewiesen wurde: die Melodie fällt abwärts, über den Zentralton e hinweg.

Bsp. 247

Diesmal spielen FA und RI wiederum die Rolle von beidseitigen Leittönen. (Ich ziehe den Ausdruck ”Richtungstöne” vor, denn die Bedeutung von FA und RI wird durch die Anziehungskraft auf das Zentrum MI hin bestimmt.)

Die Umschreibung des Tones LA jedoch darf ebenfalls nicht fehlen. Vor dem Eintritt des Mottothemas, das in ritueller Weise dreimal wiederholt wird (”Die Zunge bindet Eid und Pflicht ... schwinden”), fällt den Tönen b und gis eine ähnliche Aufgabe zu:6)

Bsp. 248

In Bezug auf die Taxonomie ist der ”Symmetriepartner” des G-Dur-Dominantseptakkords der Submoll-Akkord h-d-f-a. Dank des Tones LA ist der Charakter des letzteren bei weitem lyrischer und melodiöser (”singender”). Auf diese Weise wurde dieser Akkord instinktiv zum Rückgrat des wiederholten Mottothemas:

Bsp. 249

Der Dialog hat ein wiederkehrendes Leitmotiv, das seine Existenz den ”Richtungstönen” verdankt – und zwar in dem Sinne, in dem dieses Element genau das Gegenteil eines Leittons ist. Wenn man dem Leitton der V. Stufe (z.B. dem Ton h im G-Dur-Akkord) Gewalt antut, indem man h (anstelle einer tonalen Auflösung) zu b macht, d.h. wenn man die Durterz (h) durch die Mollterz (b) ersetzt, dann lädt dies den Ton b mit Spannung auf und macht ihn zu einem dissonanten Element, einem ”Richtungston”, der weiterer ”Leitung” – nach D-Dur hin – bedarf. Von diesem Punkt an wird die dominantische Funktion nicht mehr von G-Dur, sondern von D-Dur (Wechseldominante) übernommen. Die Aufgabe der zum dominantischen D-Dur gehörenden Tonika (d.h. g-moll) ist es lediglich, das Gleichgewicht wiederherzustellen – wie es ein großer Dirigent in Zusammenhang mit ”Ja, ja! Sarastro herrschet hier” ausdrückte.

Bsp. 250

Im Anschluß an die gewichtige Verwarnung ”Tod und Rache dich entzünden” (die wiederum einen übermäßigen Quintsextakkord verbirgt), taucht Tamino mit der G-Dur-Dominante auf:

Bsp. 251

Der alte Priester senkt plötzlich die Stimme: anstelle von G-Dur hört man g-moll, und die Fortsetzung entspricht dem oben Beschriebenen.

Die in Bsp. 250 wiedergegebenen g-moll- und D-Dur-Akkorde stellen ein Symmetrie-Paar dar, indem sie einander taxonomisch spiegeln. In diesem Sinne ist fis (FI) das Spiegelbild von b (TA). Alle diese Bemerkungen wären überflüssig, hätte nicht Mozart bei der Wiederkehr des Motivs vom Gegenteil Gebrauch gemacht. Diesmal ist die Betonung nicht auf TA, sondern auf FI, was dem Motiv sofort einen herausfordernden, provokativen Charakter gibt: indem es den Ton des leidenschaftlichen Protests und der Entrüstung anstimmt, wird es zu einer Todesdrohung. Die Tonart ist F-Dur (oder f-moll): ”das ist mir schon genug”. Käme dies in einem klassischen Oratorium vor, so würde die homophone Melodie folgendermaßen beantwortet werden:

Bsp. 252

Verantwortlich für die scharfe Herausforderung ist hier die Tatsache, daß die C-Dur-Dominante durch c-moll (die leidenschaftliche Molldominante) ersetzt wird. Genau wie zuvor geschieht die natürliche Fortsetzung durch G-Dur, in deren Kontext der Ton h die Bedeutung eines FI hat und damit Gefahr und Drohung heraufbeschwört.

Bsp. 253*)

Die Stufen FA und FI nehmen selbst innerhalb der ”Richtungstöne” einen bevorzugten Platz ein. FA zieht nach unten, zum MI hin, während FI aufwärts nach SO hin drängt. Es gibt eine moderne Idee in der Dramaturgie. Der Einleitungsteil des Dialogs ist an C-Dur gebunden, der Mittelteil an c-moll und die ihm verwandten Tonarten, während der Schlußteil zur vorzeichenlosen Tonart zurückkehrt: zuerst zu a-moll und schließlich zu C-Dur.

Es kommt die Frage auf, welcher szenische Augenblick die Reprise auslöst. In Tamino beschwört das Bild des ”unglücklichen Weibes” das tragische g-moll herauf. Für den alten Priester bedeutet jedoch das ”Weib” etwas ganz anderes. Man meint zuerst, er sei nur neidisch (und intoniere deshalb so sarkastisch), doch zeigt sich in der Musik bald immer deutlicher daß sie der Gegenspieler ist, wenn nicht sogar der ”Feind”. Ist es nicht merkwürdig, daß der Ausdruck ”ein Weib” ebenso wie das Bild des Feindes mit dem C-Dur-Akkord in Verbindung gebracht werden? Bei genauerer Betrachtung ergibt sich Folgendes: in g-moll gibt der Schritt es-d den Eindruck eines emotionalen FA-MI-Schritts; der die Harmonik bestimmende Faden besteht ausschließlich aus dem Schritt es-d. (Es wurde bereits früher darauf hingewiesen, daß FA-MI das emotionale, introvertierte Element in der Musik ist.)

Bsp. 254

Demgegenüber ist, sobald der Sprecher zu sprechen beginnt – was für eine Wendung! – FA durch FI ”vertrieben”, und FI leitet den Dialog nach SO hin:

Bsp. 255 (Man spiele zuvor das vorangehende Beispiel)

In Zusammenhang mit dem erwähnten g-moll-, B-Septakkord- und Es-Dur-Wendung soll hier auf eine andere idiomatische Wendung hingewiesen werden, die sich ebenfalls als Leitmotiv gebärdet. In meinen Verdi- und Wagner-Analysen habe ich dieses Element als ”Wende-Motiv” benannt. In Mozarts Musik ist es die diesem Motiv zukommende Rolle, einem Wort Nachdruck (und zwar emotional spannungsgeladenen Nachdruck) zu verleihen. Wenn z.B. der Grundton des a-moll-Akkords einen Halbton angehoben wird, d.h. zu b modifiziert wird (wobei die Modifizierung dem Akkord Betonung verleiht), so wird dabei ein Durseptim-Akkord (C7) gewonnen, der automatisch zur Substitutionstonart hinleitet.

Bsp. 256

Auf diese Weise wird nach dem ersten ”Zurück!” das zweite Tor erreicht, von g-moll nach Es-Dur:

Bsp. 257

Später bewegt sich die Musik in derselben Weise vom g-moll des ”Sarastro herrschet hier” zu Es-Dur: die Anhebung des g-moll-Grundtons verschärft Taminos gewaltiges ”nicht”.

Bsp. 258

Der Satz ”Er ist ein Unmensch” wird durch ein ähnliches Motiv (mit der Akkordfolge g-moll, B7, Es-Dur) unterstützt.

Bsp. 259

Derselbe Vorgang findet sich auch nach ”Erklär’ dies Rätsel” (e-moll, G7, C-Dur. Die Anhebung des Grundtons fällt hier auf den Satz ”täusch mich nicht!”):7)

Erinnern wir uns, bevor wir die tonale Struktur der Szene skizzieren, an eine Analogie: Tristans ”Träume-Akkorde” (Brangänes erster Monolog im zweiten Akt: ”Einsam wachend...”). Jede Akkordgruppe entspringt dem Cis-Dur – und der Nadir ist erreicht, wenn Cis-Dur von a-moll- und e-moll-Dreiklängen gefolgt ist:

Bsp. 260

In der Oper steht Cis-Dur für den ”Mutterschoß”, den ”Traum”, die ”Nacht” – das Nirwana. Der a-moll/e-moll-Nadir setzt die Negation selbst dieser voraus: a-moll stellt eine annihilierende Beziehung zu Cis-Dur her (ganz zu schweigen von der Tatsache, daß der Leitton innerhalb des Cis-Dur-Akkords, eis, in unnatürlicher Weise abwärts aufgelöst wird), während e-moll in polarer Distanz zu Cis-Dur steht.

Wenn innerhalb des hier zitierten Dialogs der Zauberflöte D-Dur das ”Tor” zu Sarastros Tempel symbolisiert, so wird das ”nicht-Tor” – der Augenblick, wo Tamino sich anschickt, enttäuscht zu gehen und die Tore zu ”ignorieren” – nach der obigen Logik durch b-moll und f-moll dargestellt. D-Dur und b-moll sind komplementäre, einander aufhebende Tonarten, während f-moll von D-Dur weg zum anderen Pol geschoben erscheint: in unserem tonalen System (d.h. im Quintenzirkel) ist die größtmögliche Entfernung durch den Unterschied von sechs Vorzeichen ausgedrückt. Als hätte die Zauberflöte der Wagnerschen Technik zum Vorbild gedient, finden wir uns genau an dem Punkt, wo Mozart in der Partitur ”er will gehen” notiert und der Sprecher Tamino fragt: ”Willst du schon wieder geh’n?”, in der Tonart b-moll, vier Takte später gefolgt von f-moll.

Der Gegensatz wird noch schärfer, wenn man bedenkt, daß D-Dur fast neun Takte lang von einer akzentuierten, herausragend emphatischen A-Dur-Dominante vorbereitet wird. Anziehung und Abstoßung werden dadurch umso deutlicher.

Bsp. 261

Auf einen ähnlichen Gegensatz wurde früher hingewiesen: Taminos jugendlichspontane Äußerungen werden in h-moll und e-moll ausgedrückt, während der alte Priester den tonalen Raum von As-Dur und Es-Dur eröffnet.

Bsp. 262

Infolge der oben beschriebenen Verbindungen wird ein ”doppeltes, ineinander verwobenes Spiralsystem” geschaffen, innerhalb dessen jedes Element durch seinen Gegenpol (seinen Tritonuspartner) balanciert wird:

Bsp. 263

Anläßlich der Transformation, die das ”Zurück!” mit sich bringt, drängen sich zwei weitere Überlegungen auf. Innerhalb der C-Dur-Tonart ist das tonale Symmetriezentrum durch d oder dessen Gegenpol as bezeichnet. Das Tor wird in D-Dur evoziert, der Sprecher tritt mit dem Gegenpol As-Dur auf. Für Bartók inkarnierte sich die Umkehrung der Dur-Pentatonik (DO-Pentatonik) in der MI-Pentatonik. (Spiegelt man die auf d stehende DO-pentatonische Skala in der Weise, daß sie von d aus abwärts gelesen wird, so entsteht eine MI-pentatonische Skala.) Die Grundidee der Cantata profana kann nicht getrennt gesehen werden von der Tatsache, daß unser Tonsystem (die Notation, die Tasteninstrumente und in vieler Hinsicht auch die Besaitung der Streichinstrumente) auf d als Symmetrieachse angelegt ist. Bartók stellt die DO-Pentatonik auf d einer ebenfalls auf d stehenden MI-Pentatonik gegenüber. Die Eröffnungsskala des Werks basiert auf dem pentatonischen Rahmen mit d = MI, während die das Werk beschließende akustische Skala aus der pentatonischen Skala mit d=DO erwächst. (Siehe hierzu Bsp. 88)8)

Die beiden obigen Skalen sind also das genaue Spiegelbild voneinander. Die pentatonische Skala auf d=MI beinhaltet den g-moll und den B-Dur-Dreiklang; das pentatonische Skelett des Schlusses auf d=DO enthält vor allem den D-Dur-Dreiklang, aber auch den h-moll-Akkord.  In der Zauberflöte symbolisiert D-Dur das ”Tor”; vergleiche hierzu auch Taminos Verzückung in h-moll beim Anblick von Sarastros Tempel. Die pentatonische Skala auf d=MI andererseits enthält die B-Dur und g-moll-Dreiklänge. Am Wendepunkt werden eben diese ”umgekehrten” Dreiklänge als Folge des Wortes ”Zurück!” legitimiert: zunächst B-Dur, sodann g-moll; der erstere nach ”Zurück!”, der letztere nach ”Glück”.

Noch ein weiterer Punkt sollte im Zusammenhang mit dem Schrei ”Zurück!” erwähnt werden. Dieses Wort löst den radikalen Wandel aus, der beim Übertritt von der ”Dur”-Welt in die ”Moll”-Welt geschieht. Einerseits sichern C-Dur und seine V. Stufe G-Dur die tonale Aura, die in der im folgenden Beispiel gezeigten Weise schematisiert werden kann (wobei jeder zweite Schritt in der Figur sich in reinen Quinten reimt). Andererseits impliziert die Formel auch die Möglichkeit von h-moll und e-moll. Wie schon früher angemerkt wurde, ist Taminos Stimmung von den positiven Substitutionsakkorden von G-Dur und C-Dur, d.h. von h-moll und e-moll, beherrscht.

Bsp. 264

Um das obige Quintennetz zu bilden, würde im Falle von Bsp. 264a ein einziger C-Dur- (oder a-moll-) Dreiklang genügen. Wollte man C-Dur durch c-moll ersetzen, so würden die Quintenschritte die unter Bsp. 264b gezeigte Form annehmen, wobei Es-Dur, die Paralleltonart von c-moll, ins Spiel kommt.

Sieht man sich die beiden Schemata nebeneinander an, so stellt man fest, daß das Verhältnis der alternierenden Dur- bzw. Mollterzen umgekehrt ist. Die zweite Terzenreihe verfolgt denselben Pfad, den die Musik nach dem Schock von ”Zurück!” durchläuft.

Zurück!     Glück.      Zurück!   ...    hier.      Adagio.
B-Dur       g-moll       Es-dur       c-moll       As-Dur 

Bsp. 265

Im obigen Schema bezeichnen C-Dur und c-moll, G-Dur und g-moll einen ”Dur-Moll-” (modalen) Kontrast. Ein komplizierterer Fall der Dur-Moll-Beziehung liegt vor im Kontrast der Akkorde mit gemeinsamer Terz: As-Dur und a-moll stellen in ihrer Bindung an das Auftreten und Abtreten des alten Priesters fast einen allegorischen Gegensatz dar. Ein ähnlicher Kontrast besteht zwischen e-moll und Es-Dur, h-moll und B-Dur. Aus demselben Grund wird der Akkord, der seine Terz mit dem enthusiastischen h-moll, das von Taminos Persönlichkeit ausgeht, gemeinsam hat, zu B-Dur, das den kräftigen Widerstand des Tors, den Schock des ”Zurück!” ausdrückt. Taminos Aufbrausen in e-moll wird ebenfalls einen Akkord mit gemeinsamer Terz finden: Es-Dur, welches uns den Seelenzustand des alten Priesters und die hinter ihm stehende spirituelle Welt zeigt. Nimmt man hinzu, daß e-moll und As-Dur sowie h-moll und Es-Dur als komplementäre Tonarten einander gegenseitig aufhebende tonale Bereiche sind, während h-moll und As-Dur polare Bereiche darstellen, dann kann der Computer von großem Nutzen bei der Orientierung in diesem multidimensionalen Beziehungsnetz sein.

Die breitangelegten Kadenzen beleuchtet die D-Dur-Episode wie mit Scheinwerfern: Tamino steht vor dem Tempeltor. Der ”Szenenplan” verleiht der Bedeutung und Häufigkeit der g-moll-Episoden ähnlichen Nachdruck: ”Ja, ja! Sarastro herrschet hier” gelangt, unmittelbar vor einem dramatischen Ausbruch, nach g-moll. Ebenso später, wo ”So gib mir deine Gründe an!” vor einem weitern Ausbruch in g-moll erklingt. Und auch im Zusammenhang mit ”das Gram und Jammer niederdrückt” ist g-moll wiederum zu hören.
 

In C-Dur werden die einfachste Subdominante und Dominante durch d-moll und G-Dur wiedergegeben. In taxonomischen Begriffen bedeutet dies: der Symmetriespiegel von d-moll ist G-Dur. Diese Symmetrie bleibt intakt, selbst wenn man d-moll und G-Dur durch D-Dur und g-moll ersetzt. In diesem Fall werden FA und TI zu FI und TA; d.h. daß in unserem Notationssystem das nächstgelegene (erste) Kreuz-Vorzeichen und das nächstgelegene B-Vorzeichen auftreten:

Bsp. 266

(Die Häufigkeit, mit der D-Dur und g-moll auftreten, belegt nicht nur, in welcher Weise das erwähnte Prinzip zu einem der offensichtlichsten Mittel wurde, die das diatonische System erweiterten; sondern gibt auch Hinweise darauf, wie in Bartóks Stil die ”akustische” Skala – eine DO-Skala mit FI und TA – geboren wurde.)9)

Mit Bezug auf das 19. Jahrhundert soll erwähnt werden, daß die Dominante von a-moll, d.h. der E-Dur-Dreiklang, ebenfalls einen Symmetriepartner hat, nämlich f-moll. In der Tonart C-Dur wird die Symmetrieachse neben d durch gis = as dargestellt. (In der Notation wird es durch das ”mittlere”, das dritte Kreuz- bzw. B-Vorzeichen, gekennzeichnet. Das eine zeigt aufwärts, das andere abwärts.)10) Der Tiefpunkt der Desillusionierung wird von Mozart in der Tonart f-moll gesetzt (”... nie euren Tempel sehn!”), während das Motto-Thema der Entwicklung aus E-Dur geboren wird. F-moll und E-Dur erfüllen nicht nur die Bedingungen der ”Spiegel”-Beziehung, sondern sind darüberhinaus Akkorde mit gemeinsamer Terz.11)

Die Mozartsche Chromatik ist allgegenwärtig und sichert sogar den organischen, ungebrochenen Zusammenhalt der Akkorde. Nach der Aussage ”Die Absicht ist nur allzu klar!” führt der Ton h zu c. Sodann, zur großen Terz erweitert, erhält er weiteren Nachdruck durch den Ton cis, so daß dieser als Leitton zu d führen kann. Die Rolle des genickbrechenden polaren Wechsels d-moll/H-Dur scheint nahezulegen, daß d zu dis werden und sich von dort nach e auflösen soll. Durch das ”Wende-Motiv” steigt dieses e jedoch zu f, bis dieser Ton schließlich mit dem zentralen e ”versöhnt wird”.

Bsp. 267

Das Grundmotiv der Beruhigung, des Glättens ist das DO-RE-MI-Motiv, das sich auch in der Bühnenmusik von Wagner und Verdi findet. Bedeutungsvoll wird das dreifach wiederholte Motto-Thema durch diese Akkordreihe vorbereitet. (Siehe hierzu Bsp. 248 früher in diesem Kapitel.)

Der kathartische Augenblick folgt dem Auftreten des Motto-Themas: ”O ew’ge Nacht”. Mozart benutzt hier die Tonika (im Bass) und die Dominante gleichzeitig – daher die zeitlähmende, statische Wirkung:

Bsp. 268

Die wahre Entfaltung, die Absolution, wird herbeigeführt durch das Flötensolo des Andante. Die zweifache Bühne der Zauberflöte – mit Es-Dur und C-Dur – ist von vielen Analytikern diskutiert worden. Es-Dur ist die Tonart der Initiation, des Eingeweihtwerdens in heilige Geheimnisse. Diese zweifache tonale Bühne zieht sich auch durch den gesamten hier untersuchten Dialog.

Im Vergleich zu C-Dur erhält der Es-Dur-Klang seinen Ausdruckscharakter von den Tönen MA und TA (es und b). Wenn das Flötensolo, das die wilden Tiere zähmt, erklingt und Taminos Arie ”Wie stark ist nicht dein Zauberton” ansetzt, ändert sich auch die Bühnenbeleuchtung: in unserem tonalen System sind TA und MA die Spiegelbilder von FI und DI. Die Arie ist gesprenkelt mit FI- und DI-Farben, die die ”märchenhafte” Natur-Aura der Szene schaffen.

Bsp. 269

In Zusammenhang mit der ”geheiligten” Tonart Es-Dur möchte ich noch an das dem Auftritt des Sprechers folgende Thema ”... Heiligtum. Der Lieb’ und Tugend Eigentum” erinnern. Umso mehr, als es sich mit der Schlußzeile des Quintetts reimt, dessen B-Dur-Melodie ”Drei Knäbchen jung, schön, hold und weise, umschweben...” und dessen lindernd beglückende parallele Terzen es fast notengetreu zitiert. Akkorde in Terzschritten zu senken und dadurch zu vertiefen – auch ein typisches Kennzeichen des ”Motto”-Themas – ist aus der klassischen Literatur wohlvertraut. Es fördert die beständige Erweiterung der ”inneren Bühne”, und trägt dazu bei, die Ausstrahlung des Themas zu intensivieren.
 


1. In einer Dur-Tonart ruft der Wechsel von der V. zur III. Stufe eine ähnliche Wirkung hervor; siehe z.B. im Gloria von Beethovens Missa solemnis ab Takt 345. Hier sind wir jedoch bereits in einer Moll-Tonart; d.h. Dominant-Wirkung wird  verstärkt durch den auf DI errichteten Dominantakkord.

2.  Bartók: Anfang des Vierten Streichquartetts (Bsp. 202 - Hrsg.)

3. Vergleiche das Befehlsmotiv im Tristan (Bsp. 201 - Hrsg.)

4. Siehe den Beginn von Beethovens Fünfter Sinfonie

5. Siehe den zweiten Halbsatz des Mönches im zweiten Akt von Verdis Don Carlos: f-h in der Tonart von a (siehe  Bsp. 220 - Hrsg.) 

6. Siehe auch das Ende der Seite 60 in der Universal-Editions-Ausgabe des Klavierauszuges der Zauberflöte:

*) "ta" hinzugefügt von Hrsg.

7. Dieses Motiv hat ein Gegenstück – taxonomisch gesprochen ein Symmetriepaar – welches dadurch herbeigeführt wird, daß SO des Dur-Akkords um eines Halbton gesenkt wird und auf diese Weise das g des C-Dur-Dreiklangs zu fis wird. Das so entstehende fis-submoll (fis-c-e, oder fis-a-c-e) ist ein ”Blutsbruder” der Wechseldominante; d.h. es ist in seiner Bedeutung mit dem D-Dur-Septakkord, der Dominante der Dominante, verwandt – und zwar in einem solchen Grade, daß in Mozarts Partitur die beiden meist gleichzeitig auftreten. Ein Beispiel hierfür liefert der erste Satz des Sprechers, in dem die Quint des As-Dur-Dreiklangs (es) nach d hin modifiziert wird und die gleichzeitig erklingenden d-submoll – + B7-Akkorde sich zum B9-Akkord vereinigen:

Taminos allererster Satz zu Beginn des Finale wird ebenfalls von einer ganz ähnlichen Regel beherrscht. Die Quint des C-Dur-Dreiklangs wird zu fis. Das Resultat: fis-submoll + D7 = D9. Das ”Wende-Motiv” sowie die oben beschriebene Wendung sind Spiegelbilder von einander: beide gehören zum Grundstock von Mozarts musikalischem Idiom. Der eine gravitiert zur Subdominante, der andere zur Dominante.

8. Bartók selbst erwähnte diese MI-Skala in seinen Harvard-Vorträgen.

9.  Hinter dem ergreifenden, bewegten und gleichzeitig erhebenden H-Dur-Bruchpunkt ”Man opferte ... sie schon” und dem Enttäuschung ausdrückenden b-moll (siehe die Szenenanweisung ”er will gehen”) lauert eine ähnliche Symmetrie: im Vergleich zum D-Zentrum ist H-Dur das Spiegelbild von b-moll. Der in dieser Spiegelung inhärente Gegensatz veranlaßte Verdi zur Schaffung eines seiner beliebten dramatischen Motive.

10. Auf diese Weise schlug in der Romantik die f-moll - C-Dur-Kadenz Wurzeln, die nichts anderes ist als das Gegenstück, das Spiegelbild, der in der Tonart a-moll üblichen  E-Dur - a-moll -Kadenz. Die d-submoll - C-Dur -Kadenz wird mit ähnlicher Bedeutung, als Spiegelbild der E7 - a-moll-Kadenz, verwendet.

11. Wagner komponierte sogar ein Thema über die Beziehung zwischen f-moll und E-Dur: Markes Thema ist eine der rätselhaftesten Gedanken des Tristan.


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